Der Veranstalter: Stephan Moser

Foto: Stephan Moser, Journalist, Veranstalter des Wörterbuchmarathons.

In Kürze: Journalist BR · Historiker · Spracharbeiter · hat unter anderem Texte fürs Theater und Musicals geschrieben · lebt im Kanton Freiburg · ist noch nie einen Marathon gelaufen · www.poetomat.ch

 

 «Der Duden ist der ‹Moby Dick›
der deutschen Literatur»

Der Wörterbuchmarathon-Veranstalter Stephan Moser über die radikale Schönheit des Dudens als literarisches Werk.

Wie kommt man auf die Idee, den Duden von vorne bis hinten ganz zu lesen?
Der Duden ist ein Klassiker, der «Moby Dick» der deutschen Literatur – alle kennen ihn, niemand hat ihn ganz gelesen. Der Wörterbuchmarathon will dies ändern.

Der Duden ist ein Wörterbuch, kein Roman. Er wurde nicht geschaffen, um von A bis Z gelesen zu werden.
Genau darin liegt der Reiz. Indem man den Duden Wort für Wort vorliest, wird aus ihm etwas Neues. Jeder Vorleser, jede Vorleserin kreiert durch den Akt des Vorlesens ein literarisches Werk, das es so vorher nicht gab. Der Wörterbuchmarathon entfesselt das poetische und erzählerische Potenzial des Dudens, das bei normalem Gebrauch unbemerkt bleibt.

Und worum geht es in diesem neu geschaffenen Werk?
Schlicht um alles: Die Banalität, das Böse, Ewigkeit, Geld und Geist, Gott und die Welt, Krieg und Frieden, Liebe, Macht und Masse, Mord, Sex, Schuld und Sühne, Zeit und Zorn. Der Duden hat einen lexikalischen Anspruch – den er konsequent umsetzt. Dabei greift er nicht nur die grossen Fragen auf, die uns alle umtreiben. Nichts ist zu abwegig, zu ausgefallen oder unbedeutend, um nicht verarbeitet zu werden. Nur über sich selber verliert er keine Silbe. Bemerkenswert.

Macht dieser lexikalische Anspruch, ja Zwang, die Lektüre auf Dauer nicht anstrengend?
Genialität ist selten leicht verdaulich. Über weite Strecken verlangt der Duden dem Leser tatsächlich viel Geduld und Durchhaltewillen ab. Aber gerade in dieser radikalen Verdichtung zeigt sich die Brillanz des Werks. Andere füllen ganze Bände mit ihren Elaboraten über die moderne Arbeitswelt und ihre Belastungen. Der Duden hingegen bringt es in zwei Wörtern auf den Punkt: «Todmüde. To-do-Liste.» Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen.

Häufig entscheidet der erst Satz eines Buches darüber, ob man weiterliest oder nicht. Wie sieht es damit beim Duden aus?
Ganze Sätze sucht man im Duden vergeblich. Er ist formal viel radikaler und setzt ganz auf die Kraft einzelner Wörter, die er aber auf kongeniale Weise zu komponieren versteht.

Der Anfang ist ein perfektes Beispiel dafür. Da wird erst einmal gestottert und gestammelt – oder ist es ein lustvolles Stöhnen? «A, a, a, A, A, A, A, Ä, A, à, Å, a., a., a., Aa, Aa, AA, AA, a.a.» und dann – in einem erlösenden Seufzer – «Aachen».

Der Duden lässt einem im Unklaren darüber, ob hier ein Sprecher – der erste Mensch überhaupt? – stammelnd zur Sprache und damit zu sich selber findet, oder ob wir Zeuge des sexuelle Aktes werden, der rein lautmalerisch zum  Höhepunkt hingetrieben wird. Der Duden lässt alles offen, alles ist Interpretation. Genial ist es auf jeden Fall: Aachen als orgastischer Schrei – wer den Duden einmal gelesen hat, wird künftig erröten, wenn er den Namen dieser nordrhein-westfälischen Stadt auch nur hört.

Und der Schluss?
Radikal, wie das ganze Werk. Es beginnt mit einem orgastischen Höhepunkt und hört über 1000 Seiten später mit einem regelrechten Antiklimax auf: «zzgl.». Welcher andere Autor würde es wagen, sein Werk so enden zu lassen? Grosse Kunst. Verstörend. Und wunderschön in ihrer Radikalität.